Hat die Psychiatrie Aufgaben in der Diagnostik gesellschaftlicher Befindlichkeiten und Problemlagen?
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Possible Tasks of Psychiatry in Diagnosing Emotionality and Problems of Society. Regarding the questions of social emotions and problems of society it appears meaningful to discriminate the different sociological levels of understanding: the microsocial level, the meso-level and the macro-field of politics. The social problems and emotional situations are coined presently by the concepts of “postmodern hyperflexibility” (Lyotard). Herein, especially the role of media exerts a central function. Additionally, it becomes clear that a new dimension of stagings and self-expositions is realised, which can be characterized as “hysteria as a form of life”. J Neurol Neurochir Psychiatr 2009; 10 (2): 68–71. Aus der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, D-30625 Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1; E-Mail: [email protected] Einleitung Ich möchte Ihnen zuerst gerne sagen, weshalb mich dieses Thema interessiert. Vor einigen Jahren habe ich mit der Politologin Frau Prof. Gesine Schwan an einem historischkulturanthropologischen Projekt in der VW-Stiftung über die psychische Verarbeitung der gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse nach dem Zerfall von Diktaturen gearbeitet. Dies im interkulturellen Vergleich Deutschland – Frankreich – Polen; ich lernte dabei die Perspektiven kennen – in so genannten „narrativen Interviews“, in qualitativen Analysen die Befindlichkeiten im Hinblick auf Schuld und Versagen auf der so genannten mikrosozialen Ebene, d. h. auf der Ebene unserer Patienten zu analysieren. Dies dann ferner im „Meso“-Bereich, d. h. in gesellschaftlichen Strukturen wie Beruf, Organisationen, Parteien etc. und dann schließlich in Hinblick auf die „Makro“-Ebene der großen Politik. Dabei zeigte sich, dass wir als Psychologen und Psychiater eine besondere Blickrichtung einnehmen können, wenn wir unsere Patienten verstehen wollen im Hinblick auf gesellschaftliche Dimensionen und Verfasstheiten. Eine andere Erfahrung war gewesen, dass ich vor ca. 20 Jahren als Medienbeauftragter der Max-Planck-Klinik für Psychiatrie in München feststellte, dass ein Interview, das ich dem Rundfunk zum Thema „Wegrationalisieren geschützter Arbeitsplätze in der Großindustrie nach der ,Kohl’schen Wende‘ (,Leistung soll sich wieder lohnen‘)“ gegeben hatte, durch Selbstzensur des Rundfunks in der Aussage ins Gegenteil verkehrt wurde. Ich sagte mir: Wir müssen uns im Interesse unserer Patienten gesellschaftlich einmischen, wir haben für psychisch kranke Menschen, die sich gesellschaftlich nicht artikulieren können, eine Art Bringschuld und müssen Lobbyisten sein für die Schicksale unserer Patienten im Hinblick auf Öffentlichkeit. Psychisch Kranke oder latent seelisch kranke Menschen in ihrer hohen Vulnerabilität sind ja den gesellschaftlichen Veränderungen auf der Mesound Makroebene wie Migration, Ökonomisierung und gesellschaftlichem Funktionalismus mit seinen Optimierungsprozessen weitgehend schutzlos ausgeliefert. Sie werden in ihren Arbeitsund Lebensräumen eingeschränkt und wohl auch gekränkt: „Kränkung aber macht krank“ sagt hierzu Sigmund Freud [1]. Dies gilt besonders für psychisch kranke alte Menschen, für schizophrene Menschen, für Suchtkranke oder für BorderlineKranke, um nur einige Gruppen zu nennen. Die Weise, wie Psychiatrie sich hier einmischen bzw. Diagnostik für Befindlichkeiten betreiben kann, möchte ich an zwei Beispielen deutlich machen: 1. Das Heroin-Substitutionsprojekt der Bundesregierung in Hamburg, Hannover, Frankfurt und einigen anderen Städten, an dem sich die Psychiatrische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover beteiligt, führte zu sehr erheblichen Verbesserungen der desolaten Situation dieser schwerstkranken Opiatabhängigen. Sie können z. B. wieder arbeiten. Diese Therapie sollte aber nach dem Wunsch der Politik nicht fortgeführt werden. Dagegen haben wir uns relativ erfolgreich gewehrt. 2. Im Strafvollzug Niedersachsens fiel in Pilotstudien auf, dass polytoxikomane junge Männer ebenso wie ein großer Teil der Patienten in der Heroinsubstitutionsstudie komorbid an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Hier ist mit dem Justizministerium Niedersachsen eine evaluative Studie in Vorbereitung mit dem Ziel einer verbesserten Versorgung dieser Patienten. Dabei soll im Folgenden versucht werden, zwischen kulturellen Prozessen, wie sie Künstler in kulturanthropologischer Hinsicht beschreiben, und Phänomenen der psychiatrischen Psychopathologie eine Brücke zu schlagen, ohne dabei die im eigentlichen Sinne psychologische Dimension des Themas auszuformulieren. Was sind nun die Besonderheiten der gesellschaftlichen Befindlichkeiten und Problemlagen, auf die sich die Psychiatrie bezieht, bzw. auf die sie reagieren sollte? For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (2) Psychiatrie-Aufgaben in der Diagnostik gesellschaftlicher Befindlichkeiten 69 Einmal geht es um die Frage, wie weit es nach der großen Toleranz im Gefolge der Kulturrevolution von 1968 in Deutschland heute zu einer Reduktion der Toleranz für psychisch deviantes oder leistungsverringerndes Verhalten in den Arbeitsprozessen kommt. Der österreichische Dichter Peter Turrini hat in den 1990er-Jahren hierzu ein Theaterstück geschrieben – „Minderleister“ –, das genau diese Frage zum Inhalt hat: Was wird aus den „Minderleistern“ in einer Welt ständiger makroökonomischer Optimierung und Maximierung von Leistung? Sind die scheinbaren Minderleister in anderen Dimensionen nicht sogar vielleicht weiter als die scheinbar perfekt funktionierenden Menschen? Eine andere Frage, die sich Psychiater im Hinblick auf Makrosozialität stellen können, ist jene nach „überwertigen Ideen“, d. h. nach paranoischen Entwicklungen in der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit. Hat der Sieg des Ökonomismus und des Konsumismus im Sinne von Pier Paolo Pasolini nicht inzwischen fast wahnhafte Züge angenommen? Welche Rolle spielt hierbei der Sozialdarwinismus? Welche Rolle spielen hier die Medien? Inwieweit entgleitet uns Menschen durch überwertig werdende Überzeugungen die Selbstkontrolle so sehr, dass Verschwörungstheorien zumindest scheinbar plausibel erscheinen? Im Folgenden möchte ich nun gerne zu drei Themen in der Frage nach den makrosozialen Befindlichkeiten Stellung nehmen: 1. Zur Frage, was gesellschaftlicher Funktionalismus, der bis zum Optimierungswahn gehen kann, im Hinblick auf postmoderne Rollenspiele im Sinne von Jean-Francois Lyotards Konzept der postmodernen Hyperflexibilität bedeutet: Das heißt: Wie müssen sich Menschen täglich neu stilisieren und quasi neu erfinden, um den an sie gestellten, neuen Anforderungen gerecht zu werden? Wie steht es mit der Marginalisierung des scheinbar Unnützen, des Ephemeren, im Sinne des Satzes des frühgriechischen Lyrikers Pindar: „Was ist der Mensch, was ist er nicht. Ein ephemeros, ein Eintagswesen – eines Schattens Traum der Mensch?“ [2]. 2. Welche Rolle spielt so etwas wie „Hysterie als Lebensform“ in einer Wirklichkeit, in der das Reale seinen originären Status zu verlieren droht und der Virtualität je neuer Inszenierungen weichen muss? Werden Menschen gesellschaftlich dazu disponiert, quasi „Avatare ihrer selbst“ zu werden? Darf man formulieren: Wir denken, ein ganzes Zeitalter ist dabei, hysterisch zu werden? Dies unter dem Einfluss von Medien? 3. Was ist überhaupt die Bedeutung von „Medialität“ und welche Rolle spielen die virtuellen Medien? Postmoderne Hyperflexibilität und Bewusstsein In Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“ [3] finden sich folgende Textstellen: „Der Herr meines Namens ist verreist“ und dessen Stellvertreter „probiert Geschichten an wie Kleider“. Allerdings: „Immer entstehen die gleichen Falten am gleichen Ort“. Jede dieser Geschichten beginnt mit der Formel: „Ich stelle mir vor“. Man könnte z. B. der Liebhaber einer Schauspielerin sein oder gewesen sein, oder auch einer Ärztin, einer Contessa oder einer Hausfrau. Man könnte ein Kind haben mit ihr oder auch nur einen Hund oder keines von beiden, und man könnte ebensogut der Vorgänger dieses Liebhabers sein oder der Nachfolger, der Betrogene oder der Betrüger. Man könnte ein Ich sein oder ein Er, Enderlin heißen oder Svoboda oder sich einfach einen neuen Arbeitstitel geben: Gantenbein.“ (Zusammenfassung von Christopher Schmidt, SZ 23./24.10.2004). Mit dem geistig-seelischen Klima, in dem dieser Text steht, ist ein Selbstverhältnis von Bewusstsein angesprochen, und – der Entwicklung vorauseilend – ausgedrückt, das in den 1980er-Jahren von dem französischen Philosophen JeanFrancois Lyotard als „Selbstbewusstsein der Postmoderne“ charakterisiert wurde. Wie die Ulmer Anthropologin Prof. Ina Rösing auf den Lindauer Herbsttagen 2004 ausführte, ist das postmoderne Bewusstsein – im Gegensatz zum „modernen“ Bewusstsein, das auf Selbstkohärenz, Autonomie und innere Widerspruchsfreiheit setzte – durch die Multiplizität vieler Teil-Identitäten im inneren Kosmos eines Subjekts charakterisiert. Ich bin nicht der, der ich bin, sondern ich bin heute der, zu dem ich mich jetzt mache; und so lässt Peter Handke [4] die Protagonistin in Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“ sagen: „Wenn ich mit jemandem war, war ich oft froh, aber zugleich hielt ich alles für Zufall ... Die Tochter des Taxifahrers war meine Freundin, aber ebensogut hätte ich doch den Arm um den Kopf eines Pferdes legen können. Ich war mit einem Mann, war verliebt und hätte ebensogut ihn stehen lassen und mit dem Fremden, der uns auf der Straße entgegenkam, weitergehen können. Schau mich an oder nicht. Gib mir die Hand oder nicht. Nein, gib mir nicht die Hand und schau weg von mir“. D. h. was oder wer ein Subjekt ist, ist nicht in erster Linie substanzontologisch oder durch eine ideelle und existenzielle Selbst-Identität bestimmt, sondern ist situativ bedingt und damit einer besonderen Form vom Beliebigkeit, Unverbindlichkeit, einer Rollen-Identität, einer Rollen-Situation verpflichtet. Fragt man sich, wie es in dem von Descartes ausgehenden und bei Kant, und insbesondere bei Fichte, so stark idealisierten „Ich“ als einer internen regulativen und in sich geschlossenen Instanz (mit fast gottähnlichem, zumindest die monotheistische Einheit des göttlichen Absoluten abbildendem Charakter) zur Entwicklung hin zur postmodernen Pluralität des IchBewusstseins kommen konnte, so lässt sich mit der Anthropologin Rösing die These aufstellen, dass dieser kulturelle Wandel mit der Änderung der Lebensverhältnisse zusammenhängt, dass nämlich hier ökologische Ursachen wesentlich im Spiel sind wie z. B. „das Verschwinden von Raum und Dauer in Zeiten der Beschleunigung und der globalen Vernetzung, das Verteiltsein von Information nicht auf Einzel-Speicher, sondern auf vernetzte Systeme“, das Siegen von RollenIdentitäten durch den Sieg des Funktionalismus über die Ontologie. Dieser ökologische Prozess, in dem wir heute stehen, der vielleicht gerade erst beginnt und der sich in ScienceFiction-Filmkunstwerken wie der Matrix-Trilogie der Brüder Wachowski andeutet, ist nicht nur für uns schwer durchschaubar und kaum annehmbar, er wirkt auch – was ein besonderes Thema für dieses Symposium ist – vermutlich besonders ein auf traumatisierte Menschen, auf vulnerable Menschen, auf potenzielle „Patienten“, die dem Sog dieser für sie noch
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